Dieses Phänomen ist in jedem Stadt- und Gemeinderat zu beobachten: Muss ein Kindergarten saniert werden, so streiten sich die Politiker mit Leidenschaft und Ausdauer selbst um Einzelposten von wenigen hundert Euro. Geht es dagegen um den Neubau eines Konferenzzentrums oder eines Fußballstadions, werden Mehrkosten in Millionenhöhe mal eben schnell abgenickt.
Wer hier Korruption wittert, der kann (meist jedenfalls) beruhigt werden: Es „menschelt“ lediglich, soll heißen, jeder kann sich gut ausrechnen, was ein Minus von 1000 Euro für sein Konto bedeutet. Millionen oder gar Milliarden sind dagegen außerhalb der Vorstellungskraft von Otto Normalverbraucher und seiner Ottilie. Was macht also schon ein kleines abstraktes Milliönchen weniger oder mehr?
Thema für dieses Blog verfehlt? Nein, es hat schon mit unser aller Sicherheit zu tun. Denn es geht um das schmucke Kriegsschiff, das einst den Zehn-Mark-Schein schmückte – auf den Punkt gebracht: Was macht eigentlich die „Gorch Fock“?
Zur Erinnerung, womit wir wieder beim Gesellschaftsspiel „Schiffe versenken“, nein, „Millionen versenken“ wären: Ob es über die notwendigen Investitionen in die Bark über die vielen Jahrzehnte hinweg öffentlich zugängliche Auflistungen gibt, war nicht zu recherchieren. Vor ihrem 50. „Geburtstag“ 2008 wurde die „Gorch Fock“ jedenfalls für 4,5 Millionen Euro generalüberholt und erhielt neue Segel. Danach noch einmal für 20 Millionen Euro saniert, wurden wieder neue Schäden am Schiff festgestellt. Und, Achtung, nur für Schwindelfreie: Zu Beginn der Generalüberholung im Dezember 2015 waren Ausgaben von weiteren knapp zehn Millionen Euro geplant. Doch diese Kosten stiegen schnell auf weit mehr als das Zehnfache, lies: um schlappe 125 Millionen. Also insgesamt 135 Euro, aber mit sechs Nullen dahinter. Dagegen sind die damaligen Baukosten von umgerechnet 4,25 Millionen Euro jedenfalls eher ein Trinkgeld für die Werftarbeiter.
So, genug dieser grausamen Zahlen, die hier ausdrücklich ohne Gewähr aufgeführt werden. Denn wahrscheinlich sind irgendwo mal 16 Millionen vergessen oder versehentlich zwölf zu viel hineingerechnet worden. Nur eines noch: 2017 hat die Stadt Kiel als Marketing-Gag einen Null-Euro-Schein mit der „Gorck Fock“ herausgegeben, von der Europäischen Zentralbank offiziell anerkannt und von einer lizenzierten Gelddruckerei hergestellt. Die erste Auflage von 5.000 Exemplaren, für je 2,50 Euro verkauft, aber als Zahlungsmittel natürlich gänzlich wertlos, war in Rekordzeit vergriffen.
Genau dieses Irrationale bringt uns einer Erklärung des Phänomens näher: Wie angesichts einer schönen Frau oder eines attraktiven Mannes setzt bei der schmucken Dreimast-Bark der Verstand aus. Es geht um große Gefühle: der „weiße Schwan der Ostsee“, der an die verklärte Epoche stolzer Windjammer erinnert; Deutschlands friedlicher Nachkriegs-Botschafter und seine sympathischen blauen Jungs in den Häfen der Welt; Matrosen, die Aug‘ in Aug‘ mit der brüllenden Gischt auf schwankenden Holzplanken mit bloßer Muskelkraft Sturm und Wellen trotzen usw. „Nostalgie“, so lautet das Schlüsselwort.
Wobei: Das soldatische Argument pro Segelschulschiff ist schon nachvollziehbar. Die jungen Offizieranwärter kommen auf ihren Reisen ganz unmittelbar in Kontakt zu Wetter und See, wobei Erfolg nur gemeinsam möglich ist, sie lernen hautnah die Grundzüge der Navigation – eine viel intensivere Schulung, als sie auf den heutigen Schiffen möglich wäre, die mit Elektronik vollgestopft sind und per Computerhilfe gesteuert werden. Andererseits: Funktioniert nicht auch die preiswertere Ersatzlösung, die Ausbildung des deutschen Offiziernachwuchses auf dem rumänischen „Halbschwesterschiff“ namens „Mircea“ und auf der zivilen Dreimastbark „Alexander von Humboldt II“?
Doch selbst wenn dies eine zukunftsträchtige Alternative wäre, lassen Sie uns bitte realistisch bleiben: Gegen die große Liebe kommt kein Vernunftargument der Welt an! Deshalb ist es eine gute Nachricht, dass laut NDR das lange Warten nun bald ein Ende hat: Die Marine erwarte ihr Segelschiff Ende Mai 2021 zurück, die Kostenobergrenze von 135 Millionen Euro werde „nach derzeitiger Bewertung“ eingehalten, heißt es. Das ist erfreulich.
Außerdem ist die „Gorch Fock“ bei weitem nicht das teuerste Schiff der Bundeswehr. Eine Tageszeitung rechnete jüngst vor, die neuen Fregatten kosteten einzeln so viel wie die komplette Hamburger Elbphilharmonie – übrigens eine glatte Falschmeldung. Deren Bau verschlang, offiziellen Zahlen zufolge, mit 866 Millionen Euro immerhin stattliche 111 Millionen mehr als eines dieser grauen Schiffe. Die noch in der Planung befindlichen künftigen Fregatten MKS 180 sollen dann aber bereits mehr als eine Milliarde pro Stück kosten – und das zum heutigen Stand . . . Dagegen ist doch unsere „Gorch Fock“ immer noch ein schwimmendes Schnäppchen.
Deshalb verbieten wir uns abschließend das ohnehin miese Wortspiel, ob da finanziell vielleicht etwas gewaltig aus dem Ruder läuft. Wie sagte schon einst Leutnant der Reserve Peer Steinbrück sinngemäß: „Hätte hätte Ankerkette.“
Zum Bild: Ein Arbeitsplatz nur für Schwindelfreie – auf einem Kriegsschiff ohne Waffen, hübsch anzuschauen und umweltfreundlich bis in die Mastspitzen. Wer wollte also unserer „Gorch Fock“ ernsthaft Böses? Foto: mic