Kersten Lahl Generalleutnant a. D. des Heeres der Bundeswehr. Nach seiner Pensionierung im April 2008 war er bis August 2011 Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Seit 2012 ist er Vizepräsident der deutschen Gesellschaft für Sicherheitspolitik.
Herr Lahl seit 2012 sind Sie Vizepräsident der deutschen Gesellschaft für Sicherheitspolitik, was sehen Sie als größte Herausforderung der bundesdeutschen Sicherheitspolitik?
Leider erleben wir derzeit eine Art Erosion in der westlichen Welt, die wie selten zuvor unter dem Druck globaler Krisen mit immer wieder neuen Brennpunkten steht. Zentrale Werte und Prinzipien, die bei uns bis in die jüngere Vergangenheit hinein eigentlich immer Gemeingut waren, sind plötzlich arg unter Beschuss geraten. Vor allem droht die so wichtige Solidarität untereinander einer engstirnigen und ineffektiven Hinwendung zu diversen nationalen Interessen zu weichen. Das schwächt uns alle, weil es unnötige Keile zwischen Partner treibt. Und ja, natürlich versuchen so manch andere Akteure, diesen unerfreulichen Zustand trefflich auszunutzen.
In dieser Lage kommt Deutschland eine besondere Rolle und Verantwortung zu: Nämlich den europäischen und transatlantischen Zusammenhalt in Europa zu fördern – wirtschaftlich, gesellschaftlich und nicht zuletzt auch militärisch. Wir üben dazu, ob wir es wollen oder nicht, schon so etwas wie eine Anker-und Signalfunktion in der ganzen Breite sicherheitspolitischer Felder aus. Es wird sich zeigen, ob wir diesem hohen Anspruch genügen. Aber es muss das primäre Ziel Deutschlands ein, eine hinlängliche Stabilität vor allem in Europa zu wahren. Falls das nicht gelingt, wird letztlich die gesamte westliche Welt auf Dauer nur schwer den großen Risiken wie geopolitische Machtkämpfe, Rüstungswettlauf, Migrationsdruck oder Klimawandel – um nur einige zu nennen – standhalten können.
Im Januar haben Sie davon gesprochen, dass das neue Aufgabenspektrum die Bundeswehr überfordert- konnten Sie seither eine Veränderung feststellen?
Es ist klar: Strategische Weichenstellungen können nicht von heute auf morgen zu durchgreifenden Veränderungen führen. Von daher steht mein Befund unverändert, auch wenn ich in der verteidigungspolitischen Debatte durchaus ein gewisses Umdenken erkenne.
Mein Punkt ist nach wie vor: Der gemeinsame Erfolg in einer kollektiven Sicherheitspolitik ist umso größer, je besser es gelingt, Synergien im Sinne des Ganzen zu erzeugen. Konkret: Es muss nicht jeder alles machen und können. Sondern jeder sollte sich vorwiegend auf den jeweiligen Beitrag konzentrieren, der insgesamt den höchsten Nutzen für alle verspricht. Dieses Prinzip ist umso wichtiger, je knapper die Mittel sind – und niemand wird mit Blick auf den deutschen Verteidigungshaushalt behaupten können, sie seien nicht knapp. Deutschland muss sich also gut überlegen, wo es den größten sicherheitspolitischen Nutzen für Europa erbringen kann. Und das scheint mir aufgrund unserer geographischen Lage, unseres ökonomischen Gewichts und auch unserer historischen Erfahrungen klar auf dem Gebiet zu liegen, den ich schon bei Ihrer ersten Frage skizziert habe: Der unmittelbaren Stabilität auf unserem Kontinent selbst. Andere können anderes wiederum besser.
Militärstrategisch bedeutet das im Klartext: Unser Beitrag zu einer glaubwürdigen Bündnisverteidigung sollte aus meiner Sicht die allererste Priorität erhalten. Andere Aufgaben sind zweifellos auch wichtig und in der Praxis oft durchaus sinnvoll – aber eben nur dann, solange das erste Ziel nicht gefährdet wird. Denn klar ist doch: Die Truppe kann nicht gleichzeitig alles leisten. Wer das glaubt, der unterschätzt die sehr speziellen Anforderungen der einzelnen Aufgaben in Bezug auf Finanzen, Personal, Material und vor allem Ausbildung. Als Artillerist sage ich also: Klotzen, nicht kleckern – und dabei klare Schwerpunkte bilden. Denn wer überall stark sein möchte, ist im Ergebnis überall schwach.
Dann kam Corona- welche zusätzlichen Mängel hat das zutage gebracht?
Ich würde hier nicht von Mängeln sprechen – zumindest nicht in dem Sinn, dass diese strukturell oder gar grundsätzlich angelegt seien. Natürlich führt die Pandemie auch für die aktuelle Aufgabenerfüllung der Bundeswehr zu erheblichen Unwuchten. In den diversen Auslandseinsätzen konnte und kann nur mit verminderter Kraft der Auftrag erfüllt werden. Große Übungen zur Bündnisverteidigung wurden abgesagt oder deutlich reduziert. Nachhaltige Folgen lassen sich nur schwer abschätzen. Aber was ist derzeit schon einfach in dieser Corona-Krise?
Auf der anderen Seite – und das finde ich sehr positiv – konnte die Bundeswehr wieder einmal zeigen, wie sehr auf sie Verlass ist, wenn es auch um die Hilfeleistung in Deutschland selbst geht. Das hilft der Reputation der Truppe enorm. Vor allem dürften damit auch das Bewusstsein um den Nutzen einer gezielten Reservistenarbeit und deren politische Unterstützung neuen Auftrieb erhalten. Nachdem der Wehrdienst ausgesetzt wurde, ist hier sehr viel in Vergessenheit geraten. Manche wichtigen Erkenntnisse gewinnt man eben erst in einer Krise. Da bleibt nur zu hoffen, dass wir alle rechtzeitig daraus lernen.
Durch die Corona-Maßnahmen muss der Bundeshaushalt neu überdacht werden, gibt es aus Ihrer Sicht die Notwendigkeit den Einzelplan 14 in der bisher geforderten Höhe beizubehalten, oder gibt es Sparpotenziale?
Es ist ja eigentlich unbestritten, dass der deutsche Verteidigungshaushalt seit Jahren den sicherheitspolitischen Anforderungen nicht hinreichend entspricht. Salopp gesagt, stehen Auftrag und Mittel seit Langem in keinem vernünftigen Verhältnis mehr. Und auch die Erwartungen unserer Bündnispartner, vor allem der USA, sich dem in der Nato vereinbarten Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts sehr viel mutiger als bisher anzunähern, entsprechen diesem Befund.
Von daher sehe ich kaum Spielraum für nennenswerte Kürzungen, ob mit oder ohne Corona. Im Gegenteil: Die Truppe hat auf vielen Feldern einen finanziellen Nachholbedarf, der zwingend gedeckt werden muss, will man die Defizite irgendwann beheben und die Bundeswehr wirklich zukunftsfähig und auch in der Breite solide aufstellen. Freilich muss das Geld auch intelligent eingesetzt werden, und dies gerade jetzt. Damit sollte natürlich alles, was planerisch eingestellt ist, noch einmal auf Herz und Nieren geprüft werden. Das unbedingt Erforderliche ist dabei die Messlatte, und nicht das nur Wünschenswerte. Ich habe das ja mit Blick auf die Strategie schon angerissen. Aber auch dieser Ansatz hat im Kern keineswegs nur etwas mit der Pandemie zu tun.
Im Interview im Januar sprachen Sie davon, dass die Soldaten insgesamt mit dem G36 zufrieden seien, jetzt wird das Nachfolgemodell bei der Konkurrenz beschafft, wäre das auch Ihre Wahl gewesen?
Das G 36 ist das Hauptwaffensystem der meisten Soldaten im Einsatz. Man muss ihm also voll vertrauen können, gerade in kritischen Lagen. Fehlt dieses Grundvertrauen, ist auch die Auftragserfüllung gefährdet – meine Meinung. Von daher fand ich es nicht sonderlich glücklich, wenn „von oben“ die Leistungsfähigkeit des aktuellen Gewehrs so drastisch und überspitzt in Frage gestellt wird. Das verunsichert ohne Not, zumal der Beschaffungsprozess einer neuen Waffe sich in der Regel leidvoll lange hinzieht.
Freilich bedeutet das keineswegs, dass ein Gewehr nicht technologisch weiterentwickelt werden darf und dann etwas Leistungsfähigeres neu beschafft wird. Denn das G 36 wurde ja auch für Einsatzszenarien konzipiert, die in der Zwischenzeit zumindest teilweise überholt sein und den künftigen Anforderungen nicht mehr voll entsprechen könnten. Je zielstrebiger und vorausschauender ein Nachfolgegewehr also gesucht wird, umso besser. In diesem Prozess sind jetzt offenbar Weichen gestellt worden, von denen ich aus der Ferne nur hoffen und annehmen kann, dass sie die richtigen sind.
(Beitragsbild: Kersten Lahl)