Deutschland hat kein einziges Mal die Rolle als Schlüsselstaat übernommen

Im Interview: Professor Dr. Marina Henke. Die Professorin für Internationale Beziehungen ist seit Februar die Direktorin des Centre for International Security der Hertie School, einer staatlich anerkannten privaten Hochschule mit Sitz in Berlin.

Im Februar dieses Jahres haben Sie von Wolfgang Ischinger die Leitung des Centre for International Security der Hertie School übernommen. Was waren Ihre Schwerpunkte bisher und was hat Sie am meisten überrascht?

Ich war zwölf Jahre in den USA, davor in England und Frankreich, und habe in den Vereinigten Staaten auch Sicherheitspolitik unterrichtet und sehr viel zu Militärinterventionen geforscht. Ein anderes Schwerpunktthema war „Leitstrategien“, im Englischen „grand strategy“. Die deutsche Übersetzung, die dem am nächsten kommt, ist die eines sicherheitspolitischen Gesamtkonzepts: Wie kann ein Land Sicherheit und Frieden gewährleisten – in längeren Zeitspannen, also zehn, 15, 20 Jahre lang – und alle Ressourcen zugänglich effizient und kohärent nutzen? Ich war schockiert, dass dies als Forschungsbereich in Deutschland nicht existiert, zumindest nicht an Universitäten. Wenn man in Deutschland fragt, was die Strategie sei, so hört man vor allem Wunschlisten: „Wir wollen mehr Frieden, mehr Multilateralismus, mehr Demokratie, mehr Völkerverständigung“ etc., aber keine Überlegung, wie wir dort hinkommen. Wir haben das Center umkonfiguriert. Einer unserer Schwerpunkte ist jetzt Forschung, wie man am besten Leitstrategien formuliert.

In Ihrem 2019 erschienenen Buch „Constructing Allied Cooperation“ schreiben Sie, dass Koalitionen nicht auf natürliche Weise entstehen, sondern von Schlüsselstaaten bewusst aufgebaut werden. Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang den Ruf, dass Deutschland mehr Verantwortung übernehmen muss?

Ich habe mir für das Buch über 80 Koalitionen seit 1945 angesehen, und Deutschland hat kein einziges Mal die Rolle als Schlüsselstaat übernommen. In den Balkan-Kriegen z.B. war Deutschland beteiligt, aber immer den USA, Frankreich, Großbritannien untergeordnet. Was die Initiative für eine Koalitionsbildung angeht, kam Deutschland dem am nächsten bei der Polizeimission für Afghanistan (NTM-A, EUPOL, GPPT). Deutschland denkt immer, dass ein normativer Konsens in der Welt bestehen muss, dass es zum Beispiel wichtig ist, die Polizei in Afghanistan aufzubauen. Dann wird versucht auf diese normative Weise Länder zu rekrutieren. Aber Länder haben Prioritäten, bei denen es Rankings gibt. Andere Länder sind viel pragmatischer, sie realisieren einfach, dass es diese Prioritäten gibt und man nicht auf moralische Grundprinzipien pochen kann. Man muss verhandeln – quid pro quo, also: „Was für wen?“ Dieser Pragmatismus fehlt.

Momentan sind 3.067 Soldaten der Bundeswehr in verschiedenen Ländern im Einsatz. Wie sehen Sie die Zukunft der Einsatzverpflichtungen der Bundeswehr?

Die Euphorie für Intervention ist erst einmal vorbei. Anfragen für Einsätze werden global zurückgehen. Alle interventionsfreudigen Staaten haben ihre schweren Erfahrungen gemacht. Die Einsätze der VN wird es immer geben, auch eine Präsenz in Afghanistan wird bleiben. Aber da das Interesse der anderen Nationen sich verlagert, schwindet der Druck auf Deutschland.

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang das Nebeneinander von EU- und NATO-Einsätzen?

Beide haben unterschiedliche Aufgabenfelder. Die EU macht crisis management, border protection, training mission, rule of law etc., allesamt low intensity operations. Die NATO ist immer noch in high intensity operations involviert. Was natürlich eine ganz zentrale Funktion der NATO ist, ist Abschreckung (deterrence). Auch atomare Abschreckung. Das kann die EU derzeit nicht. Die EU macht Sanktionspolitik, aber sicherheitspolitisch ist sie nicht vertreten. Die große Frage ist natürlich: Was passiert mit der EU, wenn diese Aufgabenteilung nicht mehr existiert. Kann die EU diese Aufgaben übernehmen, falls die NATO „stirbt“?

Das Zwei-Prozent-Ziel der NATO ist in der Diskussion – zwischen Corona-bedingter Senkung und durch die USA geforderter Erreichung. Wie sollte sich die Bundesrepublik verhalten?

Es gibt verschiedene Optionen. Einfach nur Geld auszugeben bringt gar nichts. Nur eine strategische Debatte bringt uns weiter. Deutschland muss sich erst einmal entscheiden, was für eine Leitstrategie es adoptieren möchte. Wie man die Bundeswehr aufstellt, hängt davon ab, was man mit der Bundeswehr machen will.
Option eins: Erneuerung der NATO. Wenn Deutschland denkt, Frieden und Sicherheit nur über das transatlantische Bündnis erreichen zu können, dann muss das Geld vernünftig in die Erneuerung des Bündnisses investiert werden, und die zwei Prozent müssen geleistet werden. Allerdings wird Amerika in Zukunft mehr politische Unterstützung in Richtung China einfordern.
Option zwei: Wenn wir unsere Souveränität wahren wollen, dann müssen Deutschland und Europa das souveräne Europa aufbauen. Die zwei Prozent müssen in die Funktionen investiert werden, die die NATO gerade übernimmt.
Es gibt noch eine dritte Option: Deutschland könnte eine Zivilmacht werden. Wir sitzen die neue Phase von Konflikten aus und sparen viel Geld. Dafür müsste aber eine strategische Debatte angestoßen werden.
Die Kampfflugzeug-Debatte fällt genau in diese Entscheidungen: Es handelt sich um eine Mittelweg-Lösung F18, EF, FCAS. Wir wollen zwar atomare Teilhabe, aber wir entscheiden uns nicht für die besten Kampfflugzeuge, sondern nehmen eigentlich schon veraltete und wollen zusätzlich den Eurofighter weiterführen. Wenn Sie mich fragen: Sicherheitspolitik ist so komplex – dieses „ein bisschen hier“ und „ein bisschen dort“ führt zu nichts Effizientem.

Vielen Dank.

(Beitragsbild: Marina Henke)

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