Russische Streitkräfte melden „historisches Ereignis“ – und was der Fachmann dazu sagt
Von Helmut Michelis
„Die russische Luftwaffe hat als erste in der Weltgeschichte eine Gruppe ihrer Fallschirmjäger aus einer Höhe von 10.000 Metern springen lassen. Nach dem historischen Sprung befanden diese sich unter harschen Bedingungen fast vier Minuten im freien Fall über der Eiswüste der Arktis.“ Diese Erfolgsmeldung verbreitete jetzt das Nachrichtenportal „Russia Today (RT)“. Der historische Gruppensprung sei wegen der eisigen Kälte von minus 60 Grad nur dank spezieller Fallschirmsysteme und Sauerstoffausrüstung möglich gewesen. „Vor der russischen Luftwaffe hat dies niemand vollbracht – in keinem Land der Welt. Diese Übungen können zu Recht als historisch bezeichnet werden“, zitiert RT das Informationsportal der russischen Streitkräfte TV Zvezda. In der deutschen Version von RT im Internet ist dazu auch ein Video-Clip zu sehen.
„Russia Today“ (Russland heute) ist ein am 10. Dezember 2005 vom Staat gegründeter und von ihm finanzierter Auslandsfernsehsender mit einem weltweiten mehrsprachigen Programm in verschiedenen Formaten. Kritiker sehen darin ein Propaganda-Instrument des Kreml. Wie ist diese Nachricht also zu bewerten?
Ein Fall für unser Mitglied Stabshauptmann a.D. Helmut Schlecht. Er verfügt über eine sehr große Erfahrung in der Nutzung von Gleitfallschirmen, die er in Altenstadt über zwölf Jahre hinweg von der „Stunde null“ bis zur Einsatzreife brachte: Er hat (bei insgesamt 5246 Fallschirmsprüngen) 379 Gleitfallschirmeinsätze (HAHO – High Altitude-High Opening) aus Absetzhöhen von 20.000 feet (6000 m) bis 34.000 feet (10.300 Meter mit Starlifter C-141) durchgeführt. Insgesamt führten die Fallschirmjäger der Bundeswehr von 1977 bis 1989 rund 4500 Sprünge im Gleitfallschirm-Einsatzverfahren aus. Schlecht bildete darüber hinaus von 2005 bis 2007 als sogenannter Vertragsoffizier Soldaten des Special Operations Command der Vereinigten Emirate in diesen Techniken aus.
Herausforderung Kälteschutz
„Bei diesen Sprüngen war ich Temperaturen bis minus 52 Grad Celsius ausgesetzt. Die Temperatur war im Bezug auf den damals vorhandenen Kälteschutz des Körpers, besonders bei hoher Luftfeuchtigkeit belastend und unangenehm“, berichtet der Stabshauptmann. Goretex-Bekleidung habe es damals bei der Bundeswehr noch nicht gegeben. „Die Funktionsfähigkeit der Sauerstoffausrüstung, die wir für die Sauerstoffversorgung während des Luftmarsches am Gleitfallschirm in den Seitentaschen des Sprunggepäcks mitführten, wurde durch die Kälte nicht beeinträchtigt. Die zwei Sauerstoffflaschen waren lediglich mit Filzstoff umhüllt.“ Auch die Funktion der anderen empfindlichen Zusatzausrüstung (Sauerstoffmaske, Funkgerät, Notfunkgerät, barometrische Auslösung, Kompass, Höhenmesser, Transponder) sei durch die extreme Kälte nicht beeinträchtigt worden.
Eisbildung im Innern der Kappe
1897 war die Polarexpedition des Schweden Salomon August Andrée in einem gasgefüllten Ballon durch die – in dieser Heftigkeit nicht vorhergesehene – zunehmende Vereisung gescheitert. Die immer schwere Hülle drückte den Ballon endgültig zu Boden; alle drei Insassen starben bei dem Versuch, sich zu Fuß aus dem Eis zu retten. „Die Gleitfallschirmkappe kann dagegen nicht vereisen, weil das Gewebe während des Gleitens im Luftmarsch ständig in Bewegung ist, sodass sich keine geschlossene Eisschicht im Ober-/Unterteil der Kappe bilden kann“, erläutert Helmut Schlecht. „Es ist allerdings so, dass bei Schneefall – auch im Sommer in extrem großer Höhe – und Hagel, beides in die vorne geöffneten Zellen der Kappe eindringt und sich im Inneren der Kappe absetzt.“
Bei einem derartigen Phänomen sei es mit Hilfe der Steuerleinen erforderlich, die Geschwindigkeit voll „auszubremsen“ (STALL-Steuerleinen ganz nach unten). Die Expertenbeschreibung: Dabei neigt sich die Kappe, unter dem darunter hängenden Körper, nach hinten (Beharrungsvermögen). Das heißt, die Fluggeschwindigkeit ist Null. Unmittelbar nach Einsetzen des STALL-Effekts lässt man die Steuerleinen schlagartig nach oben. Dabei nimmt die Kappe wieder Fahrt auf und neigt sich im Winkel von ca. 45 Grad nach vorne. Dabei fallen die Schnee-/Eisklumpen aus den Zellen der Fallschirmkappe nach vorne heraus.
Und so bewertet Helmut Schlecht die russische Erfolgsmeldung: „Ich kann mir vorstellen, dass der beschriebene Einsatz, mit der heutzutage verfügbaren Bekleidung und der Fallschirmausrüstung nebst Zubehör sowohl in der Luft, also im Fallschirmsprung, als auch am Boden unter arktischen Bedingungen durchführbar ist.“
Frühe Auslösung des Schirms
In dem Bericht sei nicht zu ersehen, ob der Sprung der russischen Fallschirmjäger aus 10.000 Meter als HALO (High Altitude – Low Opening/große Absprunghöhe, Auslösen des Fallschirms erst kurz über dem Boden), also als konventioneller militärischer Freifallsprung, oder im HAHO-Einsatzverfahren (HO/High Opening = manuelle Fallschirmöffnung zügig nach Verlassen des Luftfahrzeugs) durchgeführt wurde. „Das hat allerdings keine Bedeutung auf die Möglichkeit der Durchführbarkeit. Der Hinweis in dem Artikel, dass die russischen Standardfallschirme nur bis Absetzhöhen von 8000 Meter ausgelegt sind, hätte darauf hindeuten können, dass es sich um das HAHO-Einsatzverfahren handeln könnte, da die Absetzhöhe bei HALO unerheblich wäre, weil die Fallschirme erst in geringer Höhe ausgelöst werden (700 bis 1000 Meter über Grund), also normalen aerodynamischen Belastungen unterliegen.“ Es war aber offenbar ein HALO-Sprung.
Neuer „Kalter Krieg“
Am Rande macht der Beitrag in RT auf die in der Öffentlichkeit wenig bis gar nicht beachtete politische Dimension aufmerksam: Es gibt dort einen neuen „Kalten Krieg“ zwischen den Großmächten. Der Grund: Der Klimawandel lässt in der Arktis Schifffahrtsrouten eisfrei werden (der Transportweg von Asien nach Europa wird sich um etwa ein Drittel verkürzen) und erleichtert die Suche nach vermuteten riesigen Vorkommen an Öl und Gas im Polarmeer. Auf den großen Inseln der Region – Grönland und Spitzbergen – werden zudem im Boden große Schätze an Uran, Seltenen Erden, Nickel, Gold und vielem mehr vermutet. „Russland besitzt mit Abstand die längste arktische Grenze der Anrainerstaaten und leitet daraus auch Besitzansprüche auf einen Großteil des Festlandssockels in der Barentssee ab“, berichtete der Deutschlandfunk im Mai dieses Jahres. Anlass war Anfang März im Kreml die Unterzeichnung der „Nationalen Arktis-Strategie“ durch Präsident Wladimir Putin. Russland hat in der Arktis bereits 2015 eine riesige Militärbasis reaktiviert und ausgebaut, in der nach Angaben der Regierung 150 Soldaten eineinhalb Jahre lang autonom leben können.
Auch kleinere Staaten in der Region wie Norwegen, Schweden und Dänemark reagieren darauf mit einer Verstärkung ihrer Verteidigungsanstrengungen. Der spektakuläre Fallschirmeinsatz der russischen Streitkräfte ist in diesem Zusammenhang auch eine Machtdemonstration. Wörtlich heißt es: „Das militärische Training in der Arktis beinhaltet jedoch normalerweise nur Sprünge aus einer Höhe von 400 bis 1.000 Metern. In tatsächlichen Kampfsituationen allerdings könnten solche extremen Höhensprünge sehr vorteilhaft sein, um vom Feind unentdeckt Truppenverstärkung zu schicken. Auf genau einem solchen Szenario baute die Übung, rund um den historischen Sprung, auf.